Moral und Erzählen

Ich habe einen Artikel über die Psychologie der Story-Rezeption und deren ethische Implikationen verfasst. Erschienen ist er im Magazin für Filmdramaturgie WENDEPUNKT #52.

Hier Anmerkungen und bibliographische Hinweise zum Artikel:

Einleitung

Narrative Transportation

Die Frage, wie und warum wir von fiktionalen Geschichten eingehüllt werden und welche Prozesse dabei ablaufen, ist ein eigenes Untersuchungsfeld der Psychologie, die Transportation Theory (bzw. Narrative Absorption, Narrative Transportation). Empfehlenswerte Sammelbände mit Fachartikeln sind:

Hakemulder, Frank (Hg.): Narrative Absorption (2017)

Green, Melanie C.; Strange, Jeffrey J.; Brock, Timothy C. (Hg.): Narrative Impact. Social and Cognitive Foundations (2002)

Noch immer lesenswert ist auch (insbesondere Kapitel 6):

Gerrig, Richard: Experiencing Narrative Worlds. On the Psychological Activities of Reading (1993)

Die moralischen Effekte des Lesens bespricht aus psychologischer Sicht:

Hakemulder, Jèmeljan: The Moral Laboratory. Experiments examining the effects of reading literature on social perception and moral self-concept (2000).

Die Philosophie beschäftigt sich unter der Bezeichnung Philosophy of Fiction mit derselben Thematik. Eine kurze Einführung dazu findet sich hier:

Koon, Fred; Voltolini, Alberto: Fiction (2019)

Ein populärwissenschaftliches Standardwerk, das einen umfassenden Überblick über verschiedenste, auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse zum Geschichtenerzählen und -erleben gibt, ist:

Gottschall, Jonathan: The Storytelling Animal. How Stories Make Us Human (2012)

Probehandeln und Lernen

Geschichten haben nicht allein den Sinn, uns Probehandeln und Lernen zu ermöglichen. Aus evolutionärer Sicht erfüllen sie viele weitere Funktionen, beispielsweise dienen sie dazu, vielfältiges Wissen über die Welt weiterzugeben, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu formen, Menschen in ihrer sozialen und individuellen Existenz Sinn zu vermitteln etc. Ein neuerer Artikel, der einige dieser Zwecke bespricht, ist:

McAdams, Dan: „First we invented stories, then they changed us.“ The Evolution of Narrative Identity (2019)

Sensibilität

Das allgegenwärtige Phänomen der Sensibilität diskutiert aus philosophischer Sicht:

Flaßpöhler, Svenja: Sensibel (2021)

Moralische Beurteilung von Werken

Ein häufiger Irrtum bei der moralischen Beurteilung von Werken ist die Verwechslung von unmoralischer Fiktionen mit fiktionaler Unmoral. Geschichten mit unmoralischen Inhalten und selbst solche mit unmoralischen Absichten sind noch lange nicht unmoralisch, wenn sie Gutes in der Welt bewirken, während Geschichten mit moralischen Inhalten und besten Absichten durchaus Veränderungen zum Schlechten in der Welt auslösen können. Mit dieser Unterscheidung befasst sich sehr differenziert:

Young, Garry: Fictional Immorality and Immoral Fiction (2021)

Eine umfassende (und dabei leicht verständliche) Darlegung des Themenkreises Fiktion und Moralpsychologie liefert zudem:

Tullmann, Katie: Problems, Puzzles, and Paradoxes for a Moral Psychology of Fiction (2015)

I. Narrative Persuasion

Überzeugungskraft von Narrativen

Narrative Persuasion wird vor allem im Rahmen der Transportation Theory untersucht, siehe dazu die oben genannten Literaturhinweise.

Die Philosophie beschäftigt sich aus ihrer Sicht unter dem Begriff Paradox of Fiction mit der Frage, wieso wir beim Rezipieren von Geschichten etwas so emotional erleben, als ob es real sei. Eine schöne Zusammenfassung der Debatte kommt von:

Tullmann, Katie; Buckwalter, Wesley: Does the Paradox of Fiction Exist? (2013)

Ebenfalls sehr lesenswert dazu sind Kapitel 5 aus dem erwähnten, von Frank Hakemulder herausgegebenen Sammelband sowie:

Werner, Christiana: Emotions, Actions and Inclinations to Act (2020)

Während die Anwendung der psychologischen Prinzipien der Meinungsmanipulation in vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens hinterherhinkt, integrieren zwei Bereiche das umfangreiche Wissen schneller: die Marktpsychologie (Werbung) und die politisch-strategische Anwendung. Zur Marktpsychologie empfiehlt sich:

O'Hair, Dan; O'Hair, Mary John: The Handbook of Applied Communication Research (2020)

Alle im Artikel erwähnten Effekte gelten übrigens – ohne entscheidende Einschränkung – auch für nonfiktionale Narrative. Auch dazu ist die Studienlage konsistent.

Wiederholung von Narrativen

Besonders schwer wiegen die Effekte, wenn weitere psychologische Mechanismen hinzukommen, z.B. selbsterfüllende Prophezeiungen und der sogenannte Wahrheitseffekt, der besagt, dass uns über Wiederholungen sogar evidente Falschbehauptungen als wahr verkauft werden können.

Es braucht allerdings nicht einmal die Wiederholung eines Narrativs, um solche Effekte zu erzielen. Viele Studien weisen nach, dass bereits einzelne Kurzgeschichten und einzelne Serienepisoden Effekte in den Rezipierenden hinterlassen. Auch Johann Gottschall beschreibt das im oben genannten Buch (Seite 150 ff.).

Erlernte Hilflosigkeit

Eine umfangreiche Zusammenfassung zu diesem Thema liefert:

Mikulincer, Mario: Human Learned Helplessness. A Coping Perspective (1994)

Ab Seite 99 legt Mikulincer in einer Meta-Analyse dar, dass in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen mangelnder Kontrolle zu Erwartungen an eine mangelnde Kontrollfähigkeit in der Zukunft (und zu entsprechendem Verhalten) führen.

Ein wichtiger psychologischer Begriff ist in diesem Zusammenhang der Locus of Control, der internal oder external sein kann. Beschrieben wird damit, wo jemand die Kontrolle über seine eigene Situation verortet: in sich oder in der Außenwelt. Die Verortung in Außenwelt führt selbstverständlich zu fehlender Handlungsmacht. Der Locus of Control wird nicht nur für spezifische Kontexte gelernt, sondern kann sich auf die Lebenshaltung als Ganzes auswirken und spielt eine maßgebliche Rolle in Depressionen, Suchtproblematiken und anderen Erkrankungen.

Die individuelle Verfasstheit, der jeweilige Kontext und andere Faktoren sind selbstredend ebenfalls von Bedeutung für die Wirkung von Erzählinhalten. Im weiter unten genannten Artikel (Steindl u.a.) wird beispielsweise dargelegt, dass die individuelle Veranlagung – ob eine Person z.B. bisher von erlernter Hilflosigkeit geprägt oder von ihrer Selbstwirksamkeit überzeugt ist – einen entsprechenden Einfluss auf ihre Reaktion hat.

Narrative des Missbrauchs

Das Narrativ der Vergewaltigung von Frauen, die sich nicht wehren können, habe ich im ZDF an einem einzigen Abend – als zentrales Element der Geschichte – in drei Krimis nacheinander gesehen. Leider finde ich in meinen Aufzeichnungen keinen Hinweis mehr auf das Datum.

Wie Missbrauch einen Beitrag zu erlernter Hilflosigkeit leisten kann, beschreibt seit Ende der 70er Jahre L. E. Walker:

Walker, Lenore E. A.: Battered women and learned helplessness. Victimology, 2(3-4), 525-534 (1977)

Die bisher letzten Forschungen dazu ziehen den Zusammenhang teilweise in Zweifel (2004) oder unterstützen ihn (2007). Das Thema ist nicht abgeschlossen:

Palker-Corell, Ann; Marcus, David K.: Partner abuse, learned helplessness, and trauma symptoms. Journal of Social and Clinical Psychology, Vol. 23, No. 4, 2004, pp. 445-462

Bargai, Neta; Ben-Shakhar, Gershon; Shalev, Arieh Y.: Posttraumatic stress disorder and depression in battered women: The mediating role of learned helplessness. Journal of Family Violence vol. 22 iss. 5, 267–275 (2007)

Das beschriebene Narrativ hat darüber hinaus natürlich noch andere Effekte. Der Fokus auf die Konstellation „männlicher Täter, weibliches Opfer“ und die Abwesenheit anderer Narrative erzeugt ein verzerrtes Bild der realen Verhältnisse (alle anderen Geschlechterkonstellationen kommen, wenn auch seltener, schließlich ebenfalls vor), was wiederum ein verzerrtes Geschlechterbild zur Folge hat.

Andere Effekte des Narrativs mögen auf den ersten Blick nützlich sein: Tritt im Krimi beispielsweise die Staatsmacht auf, um den Täter dingfest machen, weckt das in uns Vertrauen in die Strafverfolgung. Solange dabei jedoch nur Kommissare männlichen Geschlechts handeln, wird nur eine weitere schädliche Überzeugung verstärkt: Männer haben Handlungsmacht (als Täter wie als Strafverfolger), Frauen sind passive Objekte dieser Handlungen.

II. Reaktanz

Gründervater der Reaktanz-Theorie:

Brehm, Jack W.: Theory of psychological reactance (1966)

Der heutige Forschungsstand zum Phänomen der Reaktanz wird in den folgenden Artikeln relativ aktuell dargestellt:

Steindl, Christina; Jonas, Eva; Sittenthaler, Sandra; Traut-Mattausch, Eva; Greenberg, Jeff: Understanding Psychological Reactance. Zeitschrift für Psychologie. 223 (4), S. 257–266 (2015)

Miron A. M. & Brehm J. W.: Reactance theory – 40 years later. Zeitschrift Für Sozialpsychologie, S. 9-18 (2006)

Reaktanz wird sogar getriggert, wenn wir nicht selbst von einer Bedrohung eigener Freiheiten betroffen sind, sondern wenn wir nur die Bedrohung von Freiheitsspielräumen anderer beobachten, siehe hier:

Andreoli, V. A.; Worchel S. & Folger R.: Implied threat to behavioral freedom. Journal of Personality and Social Psychology, Seiten 765–771 (1974)

Vor allem die Marktpsychologie hat die Reaktanz bereits gut untersucht, um dem Effekt bei Werbemaßnahmen zu entgehen. Mehr dazu in Dan O'Hair und Mary John O'Hair erwähntem Buch (Kapitel 27) und im Kapitel 5 von:

Raab, Gerhard u.a.: Marktpsychologie. Grundlagen und Anwendung (2016)

Gesellschaftliche Debatten

Reaktanz ist auch bei Gruppen, die sich in ihrer soziale Identität bedroht fühlen, nachweisbar. Eine entsprechende Untersuchung dazu:

De Lemus, S; Bukowski, M; Spears, R; Telga, M: Reactance to (or Acceptance of) Stereotypes. Implicit and explicit responses to group identity threat. Zeitschrift für Psychologie, 223, Seite 236–246 (2015)

Umgang mit Reaktanz

Eine lehrreiches Ratgeberbuch dazu, wie man Reaktanz verstehen und konstruktiv mit ihr umgehen kann:

Thomas, Carmen: Reaktanz – Blindwiderstand erkennen und umnutzen: 7 Schlüssel für ein besseres Miteinander (2020)

Paradoxe Kommunikation

Der Klassiker zu dem Thema:

Watzlawick, Paul; Beavin, Janet H.; Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien (1967)

Populärwissenschaftlich aufbereitet, doch sehr lehrreich:

Ankowitsch, Christian: Mach’s falsch, und du machst es richtig (2011)

III. Dominanz des limbischen Systems

Botschaften in Findet Nemo

Die kognitive Botschaft des Films Findet Nemo – nämlich die, dass Fische frei schwimmen können und „sollten“ – kam angeblich auch an. So geisterte das Gerücht durch die Presse, dass Kinder zuhauf Fische den Toilettenabfluss hinuntergespült hätten, um sie so in den Ozean freizusetzen. Meine Recherche ergab, dass sich hier ein Narrativ verselbständigt hat. Es gibt keine Belege für einen solchen Effekt, der sich speziell Findet Nemo zuordnen lässt.

Belegen lässt sich, dass zwei Umweltorganisationen sowie zwei Hersteller bzw. Betreiber von Abwasseranlagen öffentlich davor gewarnt haben, Fische den Abfluss hinunterzuspülen, um Kinder vorsorglich davon abzuhalten.

Flushing Nemo

Top 18 “Finding Nemo” Facts

Die Frage wird ebenfalls hier besprochen:

Did Finding Nemo encourage people to flush pet fish down the toilet?

Dass Haustiere freigesetzt werden, sobald Halter das Interesse an ihnen verlieren, ist abgesehen davon ein permanentes Phänomen – auch bei Fischen:

Invaders from Inner Space: Revealing Nemo’s True Colors

Findet Nemo ist übrigens nicht der einzige Film, der eine große Nachfrage nach Tieren ausgelöst hat. Auch Harry Potter hat das bewirkt – für Schneeeulen:

“Flushing Nemo” & the soaring threat of “101 Snowy Owls”

Schlussbemerkungen

Auseinandersetzung mit psychologischen Erkenntnissen

Die von mir geforderte Grundlagenarbeit ist auch für die künstlerisch Schaffenden von Bedeutung, die sich nicht mit moralischen Fragen auseinandersetzen wollen. Narrative Wirkmechanismen gelten unabhängig davon, mit welcher auktorialen Intention und Haltung erzählt werden soll – ob propagandistisch, parabelhaft, provokativ, reflektorisch, experimentell oder rein unterhaltend.

Ziel einer solchen Auseinandersetzung sollte es sein, eine integrale Sicht auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Story-Rezeption und ihre (sozial-)psychologischen Auswirkungen zu erarbeiten. Erst wenn die komplexen Wirkungen von Geschichten besser verstanden wurden, können bessere ethische Einschätzungen vorgenommen werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt Empfehlungen auszusprechen oder gar Richtlinien ethischen Erzählens aufzustellen, ist dagegen problematisch. Es drängt eine Debatte, die in den Kinderschuhen steckt, zu einem voreiligen Abschluss.

Geschichtenerzählen

Unverzichtbar für alle Schreibenden, die sich mit der Frage auseinandersetzen möchten, wie man sich – während des Schreibens – mit der Erkundung der Moral einer Geschichte auseinandersetzt:

Gardner, John: On Moral Fiction (1978)